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Sinnvoll oder nicht? Die Aufteilung in Mädchen- und Jungengruppen

Würde die Aufteilung der Lernenden in geschlechtshomogene Gruppen die Werkstatttage noch effektiver machen? Könnten Mädchen und Jungen dadurch besser gefördert werden?

Schülerin und Schüler in der Werkstatt
©  Hultsch | BOP

Das Pro und Contra der geschlechtergetrennten Werkstatttage

Fürsprecher des monoedukativen (also des geschlechtergetrennten) Unterrichts erwarten von der Abwesenheit des jeweils anderen Geschlechts eine entspannte Lernatmosphäre. Beim "Doing Gender“ der Jugendlichen im Klassenraum fehlt das Hauptpublikum, aber auch die in manchen Fächern als stark erlebte Konkurrenz. Mädchen erzielen so in den Naturwissenschaften zum Beispiel bessere Ergebnisse (1). Die Konzepte des Boys’Day und Girls’Day basieren ebenfalls auf geschlechtergetrennten Veranstaltungsformaten.

Studien zu den Lernerfolgen von Mädchen und Jungen beziehen sich vorrangig auf das Lernverhalten im Schulunterricht, in dem ein für alle vergleichbarer theoretischer Lerninhalt in bestimmter Zeit erfasst werden muss. In den Werkstatttagen geht es allerdings gar nicht darum, relevante Fachinhalte möglichst schnell zu erfassen, sondern um das praktische Ausprobieren und Erfahren der Jugendlichen in einer der beruflichen Praxis nachempfundenen Situation. Die Zugangsweise kann hier so unterschiedlich wie nötig sein.

Beim Lernen in geschlechtergetrennten Gruppen werden die Geschlechterdifferenzen betont:

„[...] alle Gruppentrennungen nach Geschlecht, die von Pädagog_innen vorgenommen werden, stellen per se Dramatisierungen dar: Ich signalisiere der Gruppe, gewollt oder ungewollt, dass (zumindest hier und jetzt) Geschlecht das wichtigste Unterscheidungsmerkmal innerhalb der Gruppe darstellt. Dabei liegt die Botschaft nahe, dass alle, die in dieselbe Gruppe eingeteilt wurden, viel gemeinsam haben und sich wesentlich von der anderen Gruppe unterscheiden.“ (2) 

Abhängig vom pädagogischen Kontext haben monoedukative Lernsettings ihre Berechtigung, da sie auf der sozialen Ebene entlastend wirken und Schülerinnen und Schüler motivieren können. Hier müssen Lehrkräfte, Pädagogen und Ausbilderinnen sensibel abwägen, wann sie für welches Geschlecht ein exklusives Lernangebot machen.

Weitere Differenzkategorien sind ebenso bedeutsam wie das Geschlecht

Die Schülergruppen in den Werkstatttagen sind in der Regel sehr heterogen. Innerhalb der Gruppe der Mädchen und innerhalb der Gruppe der Jungen bestehen mindestens so viele Differenzen wie zwischen den Gruppen: Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund, Jugendliche mit und ohne Lernschwierigkeiten, Jugendliche mit und ohne Behinderung, Jugendliche mit und ohne Hochbegabung, Jugendliche aus sozial privilegiertem oder unterprivilegiertem Elternhaus, Jugendliche mit diversem Geschlecht. Die Werkstatttage sind inklusiv ausgerichtet und wenden sich an das gesamte Spektrum der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler. (3) 

Doch die allein formale Koedukation – also die Erziehung und Bildung in gemischten Gruppen – kann eine gleichwertige Teilhabe der Geschlechter nicht gewährleisten. Hinzukommen muss, dass Ausbilderinnen und Pädagogen sich über die Diversität der Gruppe stets im Klaren sind und ihr eigenes Verhalten immer wieder einer Prüfung unterziehen. Diese Haltung führt zur "Reflexiven Koedukation".

Reflexive Koedukation

Wenn man sich anschaut, wie Lehrkräfte Mädchen und Jungen im Schulalltag wahrnehmen und sich ihnen gegenüber verhalten, so lassen sich deutliche Unterschiede erkennen.

Unangepasste Schüler dominieren das Jungenbild der Lehrkräfte. Sie werden häufiger sanktioniert und bekommen mehr Aufmerksamkeit als stille Jungen. Lehrerinnen und Lehrer erwarten von Jungen geringere Leistungen: gleichzeitig wird ihnen mehr Redezeit und ein differenzierteres Feedback zugestanden als Mädchen. Die stillen Mädchen kommen zu kurz; ihnen wird pauschal ein positives Sozialverhalten unterstellt, während das Verhalten von lauten Mädchen streng gemaßregelt wird. Das zeigte eine Studie zur Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. (4) 

Die Ungleichbehandlung der Jugendlichen durch Pädagoginnen und Ausbilder geschieht manchmal unbewusst und absichtslos. Sie trägt durch den Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung jedoch maßgeblich dazu bei, tradierte Geschlechterrollen unhinterfragt weiter zu bestätigen. (5) 

Abhilfe schafft hier wie auch an anderer Stelle, sich des eigenen Verhaltens bewusst zu werden und dieses zu reflektieren. "Reflexive Koedukation" heißt hier der Fachbegriff für eine pädagogische Haltung, die in den Werkstatttagen folgendes bedeuten würde:

  • Alle Schülerinnen und Schüler werden durch Berufsorientierung individuell gefördert.
  • Die Jugendlichen werden weniger in ihrer Rolle als Mädchen oder Jungen denn als Orientierungssuchende, Neugierige, Fragende, Experimentierende und Lernende angesprochen.
  • Die Lehrenden sind sich ihres eigenen "Doing Gender" und ihrer Vorbildfunktion in der beruflichen Praxis - einschließlich ihres Sprachverhaltens - bewusst.
  • Es wird der subtilen und offen gezeigten Abwertung eines Geschlechts entgegengewirkt und Sexismus unterbunden (dies schließt die Ablehnung der Diffamierung von Berufen als "Frauenberuf" oder "Männerberuf" ein)

(1) Vgl. Welt: Warum Mädchen ohne Jungs besser lernen vom 07.03.2015 https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/bildung/article138162646/Warum-Maedchen-ohne-Jungs-besser-lernen.html

(2)  Vgl.  http://www.jungenarbeit-und-schule.de//fileadmin/JuS/Redaktion/Dokumente/Buch/Debus%20-%20Dramatisierung.pdf (PDF, 2MB, Datei ist nicht barrierefrei)

(3) „Für die inklusive Pädagogik relevant ist, dass im Sinne eines positiven Umgangs mit Heterogenität die engen Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit aufgebrochen werden …“ https://www.genderopen.de/bitstream/handle/25595/365/Schildmann_2015_KategorieGeschlecht.pdf?sequence=1&isAllowed=y

(4)  Jürgen Budde, Hannelore Scholand, Barbara Faulstich-Wieland: Geschlechtergerechtigkeit in der Schule: Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gender-sensiblen Schulkultur, 2008

(5)  Vgl. dazu auch: Almut Schnerring, Sascha Verlan: Die Rosa-Hellblau-Falle. München 2014, S.157